Wenige Tage vor der EU-Entscheidung über eine Einstufung des Weißpigments Titandioxid als Gefahrstoff übt die Farbenindustrie scharfe Kritik an dem Vorschlag und weist auf die ungewollten Konsequenzen z.B. beim Recycling hin. Die Kritik der Branche entzündet sich vor allem daran, dass Titandioxid nachweisbar sicher ist und trotzdem als Gefahrstoff eingestuft werden soll.
Die Hersteller von Farben, Lacken und Druckfarben sind mit knapp 60% größter Abnehmer von Titandioxid-Pigmenten und wären durch die Einstufung erheblich betroffen. „Hintergrund für den Einstufungsvorschlag ist die Befürchtung, dass Arbeiter an Lungenkrebs erkranken könnten, wenn sie bei der industriellen Herstellung und Verarbeitung Staubemissionen von Titandioxid, ausgesetzt sind”, erläutert Dr. Martin Engelmann, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Lack- und Druckfarbenindustrie (VdL).
Kritik an Einstufung als Gefahrstoff trotz nachgewiesener Sicherheit
Aus wissenschaftlicher Sicht fehlt dem Vorschlag der Kommission jede Grundlage: Er basiert lediglich auf einer einzigen, mehr als 20 Jahre alte Studie, bei der Ratten über einen sehr langen Zeitraum staubförmiges Titandioxid einatmen mussten. Die dabei festgestellte Reaktion ist nach einhelliger Expertenmeinung nicht stoffspezifisch für Titandioxid, sondern charakteristisch für eine Vielzahl von Stäuben.” kritisiert Engelmann. Es gäbe auch in anderen Studien keine Hinweise auf eine Gefahr für Menschen. Im Gegenteil: Untersuchungen über mehrere Jahrzehnte hinweg an circa 24.000 Arbeitern in Titandioxid-Fabriken hätten kein erhöhtes Risiko für eine Tumorentwicklung festgestellt. „Titandioxid ist sicher. Untersuchungen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung bestätigen, dass es in Deutschland keinen einzigen Fall einer anerkannten Berufskrankheit aufgrund von Titandioxid gibt. Verbraucher kommen mit Titandioxid-Pulver kaum in Kontakt, so dass eine Gefährdung auch aus Sicht der EU-Kommission ausgeschlossen ist”, erklärt Engelmann.
Warnung vor weitreichenden Folgen für Wirtschaft und Verbraucher
Immer deutlicher wird, welche Folgen eine Einstufung von Titandioxid als Krebsverdachtsstoff für Wirtschaft und Verbraucher hätte: So müssten Abfälle mit einem Titandioxid-Anteil ab 1% , z.B. Kunststoffverpackungen wie Joghurt-Becher oder Bau- und Abbruchabfälle, in Zukunft als „gefährlicher Abfall“ (früher “Sondermüll“) behandelt werden. „Die Kosten für die Abfallentsorgung würden explodieren”, warnt Engelmann und weist darauf hin, dass damit auch die ambitionierten Ziele für das Kunststoff-Recycling unerreichbar wären. Daran ändere auch die von der Kommission angekündigte Ausnahme in der EU-Abfallgesetzgebung nichts, weil die Umsetzung einer praktikablen Lösung Jahre in Anspruch nehmen würde.
Internationale Kritik an drohenden Handelsbeschränkungen
Unterdessen nimmt die internationale Kritik zu: Neben den USA haben auch Kanada, Mexiko, Japan, Australien und Neuseeland Einspruch gegen den Vorschlag eingelegt. Die Einstufung könne „unnötig störend für Milliarden von Dollar“ im internationalen Handel sein. Die Handelspartner empfehlen, die Einstufung bis zur Klärung der offenen Fragen zurückzustellen. „Die Kommission sollte ihren Autopiloten in Sachen Titandioxid abschalten und die internationale Kritik an dem Vorschlag ernst nehmen”, empfiehlt Engelmann. Die Einstufung von Titandioxid sei ein „Lackmus-Test für die Europäische Chemikalienpolitik”, weil sie Auswirkungen auf sämtliche pulverförmigen Stoffe habe.
Unnötige Warnhinweise verunsichern Verbraucher
Die Branche erneuert ihre Kritik an den für Farben, Lacke und Druckfarben vorgeschlagenen Warnhinweisen, wonach auf jedem Farbeimer künftig stehen soll „Achtung! Beim Sprühen können sich gefährliche Tröpfchen bilden“. „Wir können nicht verstehen, warum sämtliche Farben und Lacke gekennzeichnet werden sollen, obwohl nur die wenigsten für Sprühanwendungen geeignet sind.”, so Engelmann. Außerdem sei Titandioxid in Farben und Lacken fest in die Bindemittel-Matrix eingebunden und könne daher gar nicht eingeatmet werden.
Einheitliche europäische Staubgrenzwerte am Arbeitsplatz als Alternative
Als Lösung schlägt der VdL eine europaweite Angleichung der Staubgrenzwerte am Arbeitsplatz vor. „Die diskutierten Risiken beruhen allein auf dem Einatmen von Stäuben. Der Schutz vor Staub ist ein wichtiges Thema und wird in den meisten EU-Mitgliedstaaten durch einen Grenzwert am Arbeitsplatz sichergestellt. Deutschland ist hier international Vorreiter”, erläutert Engelmann. Statt der vorgeschlagenen Einstufung von Titandioxid sollte die von der EU-Kommission bereits in Angriff genommene Harmonisierung der Staubgrenzwerte in Europa vorangetrieben werden.
Hoffnung für die Industrie
Der endlose Krimi mit seinen erheblichen Auswirkungen auf die Chemieindustrie und angrenzende Branchen sowie auf die Müllkreisläufe macht nun zunächst Pause. Die EU Mitgliedstaaten haben die anstehende Entscheidung im Ausschuss am Donnerstag im letzten Moment von der Tagesordnung genommen. Vermutet wird, dass sich auch diesmal keine Mehrheit für eine Einstufung des bewährten Weißpigment abgezeichnet hat.
Nach den anstehenden Europawahlen kann aber das Thema im Herbst unter einer neuen EU-Kommission abermals auf die Tagesordnung gesetzt werden. Dann gelten wohl die Regeln der „Delegierten Rechtsakte“, wonach die Kommission die Einstufung zwar erst nach einer Prüfung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen, im Ergebnis aber ohne ein Votum der Mitgliedstaaten vollziehen kann.
Für die Industrie bleibt die Hoffnung, dass sich die „Kommission bis dahin nochmals über den richtigen Verfahrensweg Gedanken macht und statt des umstrittenen Verfahrens über CLP doch den effektiven Weg über eine EU-Harmonisierung der Staubgrenzwerte am Arbeitsplatz geht“, kommentiert VdL Geschäftsführer Dr. Martin Engelmann die Entwicklung. (AS)
Hintergrund
Titandioxid wird aus dem Mineral Ilmenit gewonnen und seit 100 Jahren industriell eingesetzt. Aufgrund der hohen Licht-Streuung seiner Kristalle hat Titandioxid das höchste Deckvermögen aller Weißpigmente und ist bei der Herstellung von weißer Farbe und Buntfarbtönen unverzichtbar. Gleichwertige Alternativen gibt es für die Farbenherstellung nicht.
Der Verband der deutschen Lack- und Druckfarbenindustrie e.V. (VdL) vertritt rund 200 Lack- und Druckfarbenunternehmen mit rund 25.000 Beschäftigten gegenüber Politik, Behörden, Wissenschaft und Medien. Der Verband vertritt mehr als 90 Prozent der mittelständisch geprägten Branchenfirmen.